Predigt des Apostolischen Nuntius am 1. Advent

(Jes 63,16-17.19; 64,1-7; Ps 80; 1 Kor 1,3-9; Mk 13,33-37)

Berlin, 3. Dezember 2017

„Reiß doch den Himmel auf, und komm herab!“ (Jes 63,19).

 

Liebe Brüder und Schwestern!

Die Zeit des Advents beginnt. Die Kirche fordert uns die kommenden Wochen zur Vorbereitung auf das Hohe Weihnachtsfest auf. Bei dieser Vorbereitung hilft uns das Markusevangelium, das bevorzugt unsere liturgischen Feiern begleiten wird. Es handelt sich um das älteste und kürzeste Evangelium, das uns zur neuerlichen Erfahrungen des Lebens und des Werkes unseres Herrn Jesus Christus führt.

Der Advent ist eine Zeit der Erwartung. Auch die biblischen Lesungen erinnern uns an die Erwartung des erwählten Volkes. Sie bezieht sich aber auf die ganze Menschheit. Das bestätigen die Schriften und mündlichen Überlieferungen vieler Völker, welche die Geburt eines Heroen erwartet haben, eines außergewöhnlichen Menschen, eines Retters, der den Menschen zuhelfen imstande wäre, ihre begrenzte Existenz, die dramatischen Bedingungen des menschlichen Lebens aufzuheben und einen Weg zu einer neuen Epoche, einer neuen Welt des Friedens, der Gerechtigkeit und des Glücks zu zeigen.
Im Licht des Gotteswortes, das verkündet worden ist, verweilen wir bei der Bedeutung der Erwartung in ihren verschiedenen Wahrnehmungen. In unserer säkularisierten Welt hat man leider den Eindruck, die religiöse Erwartung sei verschwunden (I). Für uns Christen muss sich die Erwartung von einer Haltung der Angst lösen (II) und immer mehr zu einer Haltung der Freude auf die Begegnung mit dem verherrlichten Herrn werden, dessen Kommen wir erwarten (III).

1. Das Fehlen der Erwartung.

In den säkularisierten Ländern wächst die Zahl derer, die erklären, religionslos zu sein. Nach einigen Statistiken sind es in der Bundesrepublik Deutschland etwa 36 Prozent der Bevölkerung. Nach einer oberflächlichen Betrachtung leben diese Menschen, als ob es Gott nicht gäbe (etsi non daretur). Es scheint, sie zeigen kein Interesse an religiösen Fragen und sind den transzendentalen Werten gegenüber verschlossen. Hoffen wir, daß es sich lediglich um eine oberflächliche Sicht handelt, eine äußerliche und daß auch diese Menschen von den lebendigen Fragen nach der Bedeutung des menschlichen Lebens auf persönlicher, familiärer und sozialer Ebene berührt werden. Wir erinnern der stets aktuellen Fragen für jeden Menschen: Wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir? Wir hoffen, daß unter der scheinbaren Verschlossenheit der als Abbild Gottes geschaffene Mensch (vgl. Gen 1,27) seinen Schöpfer sucht und auf gewisse Weise die Begegnung mit ihm und sein Kommen erwartet. In dieser Zeit des Adventes beten wir besonders für solche Brüder und Schwestern, damit sie die Freude der Erwartung auf den erfahren, der kommen wird, auch wenn wir nicht wissen, „wann die Zeit da ist“ (Mk 13,33).

2. Der Herr wird kommen.

Im Evangelium wird die Gewissheit des Kommens des Herrn unterstrichen, ohne den genauen Zeitpunkt zu kennen. „Es ist wie mit einem Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen zu gehen: Er übertrug die Vollmacht seinen Knechten, jedem eine bestimmte Aufgabe; dem Türhüter befahl er, wachsam zu sein“ (Mk 13,34). Bei seiner Rückkehr verlangt der Herr Rechenschaft über das Tun eines jeden. Am Ende der Geschichte, wenn Jesus Christus in seiner Herrlichkeit erscheint, wird er sich als Richter zeigen. Dieses Auftreten kann Angst auslösen, wie es bei einem der Knechte im Gleichnis mit den Talenten (vgl. Mt 25,14-30), der nur ein einziges Talent erhielt, der Fall war. Er selbst gab zu: „Herr, ich wusste, dass du ein strenger Mensch bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast; weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt. Sieh her, hier hast du das Deine“ (Mt 25,24-25). Wegen dieser Haltung des Schreckens, die ihn lähmte, verurteilte der Herr den unfähigen Knecht und verstieß ihn in die Finsternis, wo man heult und mit den Zähnen knirscht (vgl. Mt 25,30). In diesem Advent, der Zeit der Erwartung, müssen wir unser Gottesbild korrigieren. Er ist nämlich der gerechte Richter, der zugleich gut und barmherzig ist. Er ist kein Tyrann, der unsere Freiheit begrenzt, uns der Persönlichkeit beraubt und uns zu erniedrigen verlangt, letztlich bis in den Tod hinein. Im Gegenteil zeigt er sich uns als Gott „nicht der Toten, sondern der Lebenden“ (Mt 22,32), der will, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4). So ist Jesus Christus die Wahrheit, die uns den Weg zeigt, um das ewige Leben zu erlangen (vgl. Joh 14,6). Gott lässt uns die Freiheit und ruft uns zur Verantwortung auf. Das Gesetzt, das er uns gegeben hat, ist wie ein wesentlicher Kodex, den wir in die Tat umsetzen sollen, um sicher das Ziel zu erreichen: das ewige Leben. Gott wird uns nicht ohne unser Zutun, nicht ohne unsere Mitwirkung mit seiner Gnade retten. Wenn wir die Gaben annehmen, die Er uns anvertraut hat und sie trotz unserer Begrenzungen und der Sündhaftigkeit fruchtbar zu machen suchen, brauchen wir keine Angst vor seinem Urteil haben. Es wird positiv sein, wie es im Fall der Knechte, welche ihre Talente eingesetzt haben und noch weitere dazu erhielten: „Sehr gut, du bist ein guter Diener. Weil du im Kleinsten zuverlässig warst, sollst du Herr über zehn Städte werden“ (Lk 19,17).

3. Die Freude über die Begegnung.

Die Begegnung mit dem Herrn, der kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten, wird zum Heil für jene, die an Gott glauben und seinen Willen zu erfüllen trachten, insbesondere, wenn sie das Liebesgebot in die Tat umsetzen, vor allem für die Armen und die Kleinsten (vgl. Mt 25,31-46). Der Advent lässt uns das wahre Angesicht Gottes in der Person Jesu Christi erkennen. Er hat sich entäußert und ist Mensch geworden, „in allem uns gleich außer der Sünde“ (Hebr 4,15). Wer hat Angst vor dem Kind Jesus, das in einer Grotte bei Bethlehem geboren wurde? In der Menschwerdung Jesu Christi erkennen wir das Antlitz des Gottes, der nah, solidarisch, brüderlich ist. Bedenken wir dieses Geheimnis im Gebet, in der Meditation, in der Feier der heiligen Geheimnisse, vor allem in der Eucharistie. In diesem Advent erleben wir Momente der Einsamkeit, der Stille und des Friedens, um die Schönheit der Erwartung der Begegnung mit Jesus Christus zu genießen, jener geliebten Person, die bald kommen wird. Erneuern wir in unseren Gemeinschaften die Worte, die der Heilige Paulus an die Korinther geschrieben hat: „Denn das Zeugnis über Christus wurde bei euch gefestigt, sodass euch keine Gnadengabe fehlt, während ihr auf die Offenbarung unseres Herrn Jesus Christus wartet“ (1 Kor 1,6-7).

Das Zeugnis Christi ist sein Evangelium. Suchen wir dies in der Haltung der seligen Jungfrau Maria, der Frau in Erwartung. Im Advent lehrt uns Maria, wie notwendig es ist, zu Gott zu beten, denn er zerreißt die Himmel und steigt zu uns herab (vgl. 62,19). Sie lehrt, wie nötig die lebendige Erwartung der Geburt Jesus Christi ist. Maria weist darauf hin, ihm das Umfeld, unsere Gemeinschaften, vor allem aber unsere Herzen vorzubereiten, damit er eintreten kann, um dort zu leben und zu wachsen. Vertrauen wir unsere guten Vorsätze in diesem Advent der Fürsprache der Gottesmutter an, die auch unsere Mutter ist, und rufen wir: „Marána thá“ (1 Kor 16,22). „Komm, Herr Jesus“ (Offb 22,20). Amen.

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